Über den Titel dieses Textes könnte man durchaus streiten. Wieso sollte ein Mensch ein Bedürfnis haben, seinem Mitmenschen Gutes zu tun? Im jüdisch-christlichen Kulturkreis ist uns die Nächstenliebe als hohes Gut vertraut, denn in der Bibel ist das erste Gebot „Du sollst Deinen Gott lieben mit all Deiner Kraft…“, das zweite Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ ist ihm gleichgestellt.
Aber ist das etwas, das uns anerzogen wurde, weil es ein Gott von uns verlangt, an den viele Menschen unserer Gesellschaft gar nicht mehr glauben? Oder gibt es ein tiefes menschliches Bedürfnis danach, seinem Mitmenschen uneigennützig Gutes zu tun?
Ich habe einen Mann vor Augen, der in Griechenland Luftballons kauft und in einem Lager an Flüchtlingskinder verschenkt – damit sie eine kleine Freude in dem ganzen Elend und Chaos haben. Ein anderer war im letzten Sommer in den Nachrichten zu sehen, wie er an einer Stelle, wo die Flüchtlinge an Land kamen (Lesbos???) und wo keine Organisation war, um irgendeine Form von Hilfe zu leisten, kleine Wasserflaschen verteilte. Diese beiden treiben mir die Tränen in die Augen. Was sie tun, ist der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein. Sie werden nicht Europa retten, sie werden diese Krise nicht lösen, aber sie tun, was sie können. Der eine sagte: damit ich noch in den Spiegel sehen kann.
Nein, das ist nichts spezifisch christliches, das ist ein Urbedürfnis des Menschen: dem anderen helfen. Von dem, was ich habe, weitergeben. „Geteilte Freude ist doppelte Freude“. Und wenn mein Mitmensch seine Würde zu verlieren droht, verletzt meine Untätigkeit letztlich auch meine Würde.
Christlich wird es, wenn ich überlege, wie weit ich gehen soll. Denn wenn zu viele Menschen vor meiner Tür stehen und Hilfe brauchen, dann ist mein Bedürfnis zur Nächstenliebe ganz schnell gestillt. Ich will ja helfen, aber wie? Und wem? Instinktiv hilft man zunächst mal dem, der einem ähnlich ist oder in einer ähnlichen Situation. Aber hier macht Jesus eine klare Ansage. Er wird gefragt: „Wer ist mein Nächster?“ und erzählt vom barmherzigen Samariter. Ein (jüdischer) Mann fällt unter die Räuber und bleibt verletzt liegen. Nacheinander kommen zwei jüdische Würdenträger vorbei, sehen ihn, lassen ihn liegen. Als dritter kommt der Samariter, der erbarmt sich des Verletzten und versorgt ihn. Der Witz an der Geschichte: die Samariter waren mit den Juden verfeindet, zumindest sprachen sie eigentlich nicht miteinander. Mein Nächster ist der, an dem ich barmherzig handele, der an mir barmherzig handelt – egal, wie nah oder fern wir uns sonst sind. (vgl. Evangelium nach Lukas, Kapitel 10)
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Als Christ brauche ich die Nächstenliebe auch, weil sie Ausdruck meiner Liebe zu Gott ist, bzw. wird, wenn ich sie bewusst aus der Gottesliebe heraus übe. Doch gerade so wird es leichter, auch jenen vielleicht auch Allernächsten, die mir ständig auf die Zehen trampen, Gutes zu tun, auch wenn das auch so immer noch schwer genug ist, wenigstens für mich.