Heute haben wir mit den Trauermetten begonnen, eine alte dominikanische Tradition. Ich liebe diese Form: an den drei Kartagen singen wir morgens nicht nur die Psalmen der „Laudes“ sondern auch die der „Matutin“. Dazu kommen mehrere lange Lesungen, teils gesungen, teils gelesen. Viele der Texte sind Klagen und kreisen um die Vertreibung Israels ins babylonische Exil, um die Not unter der Herrschaft der Ägypter und Assyrer. Hat Gott sein Volk verlassen? Sieht er sein Elend nicht? Der Schrei Jesu am Kreuz „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ ist ein Zitat aus einem dieser Psalmen. Wenn Jesus am Karfreitag verstummt, beten und klagen wir an seinem Grab weiter.
Zu dieser Tradition gehört ein großer Kerzenständer, der nur in diesen drei Tagen aufgestellt wird. Mit jedem Psalm werden zwei Kerzen gelöscht, schließlich auch die Altarkerzen. Es wird immer dunkler, bis ganz zum Schluss auch das elektrische Licht ausgeschaltet wird. Die Symbolik ist klar: wir nähern uns dem Tod Jesu, der das Licht der Welt ist. Wenn dieses Licht stirbt, kann nichts mehr hell sein.
In diesem Jahr bekommt unsere Tradition für mich ungeahnte und schreckliche Aktualität. Bisher fand ich die Texte zwar bewegend aber so, wie einen Literatur halt bewegt: das Elend, das da beschrieben wird, ist 2.500 Jahre her. Diesmal ist das anders! An einer Stelle klagt der Psalmist z.B. Gott an:
„Der Feind hat dein Heiligtum völlig verwüstet.
Deine Gegner lärmten am Ort deiner Feste,
dort richteten sie ihre Feldzeichen auf.
Den Schmuck deines Hauses rissen sie ab,
mit Axt und Hammer zerschlugen sie alles.
Feuer legten sie an dein Heiligtum,
bis auf den Grund entweihten sie deinen Wohnsitz.
Sie nahmen sich vor: Wir wollen alles vernichten. […]
Und keiner von uns weiß, wie lange noch.“
Plötzlich stehen mir die Bilder von Butscha vor Augen, die Ruinen von Mariupol und Charkiv. Und keiner von uns weiß, wie lange noch!
Ist das jetzt ein Trost, dass es dieses Elend offenbar immer schon und immer wieder gegeben hat? Oder ist es gerade zum Verzweifeln, dass die Menschheit nicht lernt? Auf jeden Fall tröstet es mich, dass ich mich mit meiner Klage an Gott wenden kann. Auch mit meiner Frage nach dem „Warum“. Ich bekomme keine Antwort auf diese Frage, manches Leid ist und bleibt (!) einfach ohne Sinn.
Die Botschaft der Kartage ist noch nicht die Hoffnung auf die Auferstehung. Die Botschaft des Gründonnerstag ist: Jesus rennt nicht weg, als es eng wird. Er weiß, was auf ihn zukommt, er hat Angst und ist verzweifelt. Er ist einsam und traurig bis zum Tod, weil ihn seine besten Freunde im Stich lassen. Aber er läuft nicht weg! Und was auch immer einem Menschen an Leid widerfährt, er kann sich sagen, dass Gott bei ihm ist und bleibt. Seit Jesus freiwillig in den Tod ging, ist deutlich: kein Mensch ist von Gott verlassen.