Nun ist sie also da, die Studie der evangelischen Kirche zur sexualisierten Gewalt und anderem Missbrauch. Ich möchte nicht viel dazu sagen, denn wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Will sagen: ich möchte mich vor jeder Form von Relativierung hüten. Nichts wird bei uns besser, weil es bei anderen auch schlimm ist. Allerdings sind ein paar Bemerkungen zum Rahmen vielleicht doch erlaubt, um die Studie besser einordnen zu können. Dieses Äußere scheint mir nicht unwichtig, zumal die Macher der Studie selber davon sprechen, es handele sich um die Spitze der Spitze des Eisbergs.
Wenn man nur auf die Zahlen starrt, verliert man das Wesentliche aus dem Blick: die Betroffenen. Jede/r Einzelne ist wichtig und verdient, in seiner/ihrer Not wahrgenommen zu werden. Ich kenne inzwischen mehrere Betroffene persönlich. Doch dazu, wie die Kirchen insgesamt als Institution mit ihnen umgehen, wage ich keine Aussage. Das können andere besser. Wozu ich etwas sagen kann, das sind halt die Zahlen. Und da fällt mir als erstes auf, wieso von der Spitze der Spitze die Rede ist. Der Leiter der Studie meint, es sei nur ein kleiner Teil der vereinbarten Akten zur Verfügung gestellt worden, und die Dunkelziffer komme ja auch noch dazu, daher: die Spitze der Spitze.
Das hat mich nun doch neugierig gemacht auf die absoluten Zahlen und einen Vergleich mit der katholischen MHG-Studie:
Die Anzahl der Katholiken ist in Deutschland nur ein wenig größer als die der Protestanten, ca. 21 Mio zu 19 Mio. Der Zeitraum der Untersuchung war auch ähnlich: die MHG-Studie kam 2018 raus, und beide beginnen mit ihren Untersuchungen 1946. Für die ForuM-Studie wurden ca. 5.100 Disziplinar- und Personalakten ausgewertet. 19 der 20 evangelischen Landeskirchen hatten keine Personalakten zur Verfügung gestellt. Das erinnert mich sehr an meine Kirche, in der es auch immer wieder schwierig war, das Datenmaterial zu öffnen. Doch immerhin wurden für die katholische MHG-Studie 38.000 Personalakten ausgewertet. Wie gesagt: das macht nichts besser. Die Zahl dient nur der Einordnung.
Denn aufgrund der geringen Anzahl gesichteter Akten gehen die Macher der ForuM-Studie davon aus, dass die 1.259 Beschuldigten (die Spitze der Spitze) hochgerechnet eher 3.497 sein müssten. Das ist fast unglaublich. In der MHG-Studie wurden 1.670 Beschuldigte festgestellt, und das war ja schon eine unerträglich hohe Ziffer. Mit den Opferzahlen verhält es sich ähnlich. Was dahinter an Leid steht, hinter jeder einzelnen Ziffer, kann man kaum ahnen.
Wie gesagt, ich kann das nicht interpretieren oder kommentieren. Nur eine Zahl, die fand ich wirklich klar und eindeutig: dreiviertel der Täter waren zum Zeitpunkt ihrer ersten Tat verheiratet. (Eigentlich ist das nicht so überraschend: Kinder erleiden sexualisierte Gewalt in den meisten Fällen in ihrer Kernfamilie, also häufig von ihren Vätern. Aber das nur in Klammern, weil eine Betroffene mich mal sehr nachdrücklich auf diesen Umstand hingewiesen hat. Sie meinte empört, das würde in den Diskussionen um die Kirche immer verschwiegen!)
Könnten wir jetzt also bitte aufhören, die Zölibatsdiskussion und die Missbrauchsaufklärung zu vermischen? Diese Verbrechen haben viele Ursachen, ganz ohne den Zölibat; beides hat nichts miteinander zu tun! Und ich glaube sogar, wir missachten die Betroffenen, wenn wir ihr Leid instrumentalisieren, um in einer davon eigentlich unabhängigen Debatte Punkte zu machen. Danke.
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3 Comments
„ Könnten wir jetzt also bitte aufhören, die Zölibatsdiskussion und die Missbrauchsaufklärung zu vermischen? Diese Verbrechen liegen nicht am Zölibat. Beides hat nichts miteinander zu tun!“
Vielen Dank für diesen Satz.
Bis letzte Woche wurde man ja für einen solchen Satz ja regelrecht geächtet, besonders von Anhängern des „Synodalen Wegs“. Dabei ist dieser Nicht-Zusammenhang schon lange ersichtlich.
Ich sympathisiere durchaus mit dem synodalen Weg, und ich verstehe auch einige Argumente gegen den Zölibat. Nur hat das eben einfach nichts mit dem Skandal des Missbrauchs in seinen verschiedenen Formen zu tun. Jede dieser Debatten hat ihre eigene Wichtigkeit. Sie zu vermischen, hilft nicht.
Aber dieses Vermischen wurde schon von Anfang an von den Akteuren des Synodalen Weges mit absoluter Absicht getan. Wahrscheinlich kommt demnächst aus Limburg das Statement, daß auch diese Studie den Synodalen Weg in seinen Anliegen unterstützt. Das ist reine Blendung.